Am 15. Mai 2025 hat der Bundesgerichtshof (Az. III ZR 417/23) ein Urteil gesprochen, das weit über den konkreten Einzelfall hinausreicht. Es betrifft nicht nur das Schicksal einer Familie, die ihr Kind durch eine tragische Rettungskette verloren hat – sondern wirft grundsätzliche Fragen auf:
Wie sicher ist unser Notrufsystem? Wie gut sind Leitstellen vernetzt? Und wer haftet, wenn Leben durch organisatorische Lücken in Gefahr geraten?
Dieses Urteil ist – bei aller juristischen Zurückhaltung – ein Weckruf für das gesamte System der präklinischen Notfallversorgung.
Der Fall: Wenn Sekunden fehlen – und Informationen verloren gehen
Es geht um eine hochschwangere Frau aus Nordwestmecklenburg, die im Januar 2017 gegen 22:20 Uhr starke Schmerzen verspürt. Ihre Hebamme sagt am Telefon: „Sofort ins Krankenhaus!“
Der Ehemann ruft den Rettungsdienst.
Doch der Notruf landet in der falschen Leitstelle – und wird weitergereicht:
➡️ Erst von Bad Oldesloe nach Schwerin
➡️ dann nach Lübeck – mit verlorenen oder unvollständig weitergegebenen Informationen.
Besonders fatal: Der ausdrückliche Hinweis der Hebamme auf die Dringlichkeit kommt nicht bei der entscheidenden Leitstelle an.
Ein Rettungswagen wird geschickt – kein Notarzt. Erst als die Situation vor Ort eskaliert, wird nachalarmiert. Zu spät: Das Kind kommt durch eine Notsectio zur Welt, schwer geschädigt durch Sauerstoffmangel – und verstirbt wenige Wochen später.
Die Entscheidung des BGH: Amtspflichtverletzung nicht ausgeschlossen – Gutachten fehlte
Die Eltern klagten. Doch Landgericht Lübeck und das Oberlandesgericht Schleswig wiesen die Klage ab. Ihre Begründung: Nach dem Indikationskatalog der Bundesärztekammer habe keine Notarztpflicht bestanden. Außerdem seien die Weiterleitungen zwischen den Leitstellen formal korrekt erfolgt.
Doch der BGH widersprach:
Das Berufungsgericht hätte ein medizinisches Sachverständigengutachten einholen müssen. Es sei nicht ausreichend geprüft worden, ob eine sofortige Notarztentsendung medizinisch geboten war – insbesondere im Lichte der Aussagen der Hebamme.
Damit hebt der BGH das Urteil auf und verweist den Fall zurück an das Berufungsgericht.
Beweislastumkehr bei groben Fehlern – eine rechtliche Zäsur
Besonders brisant: Der BGH weist in seinem Urteil darauf hin, dass bei grober Vernachlässigung von Amtspflichten– etwa durch Disponenten einer Rettungsleitstelle – eine Beweislastumkehr zulasten der Behörde in Betracht kommt.
Was bedeutet das?
Normalerweise muss der Kläger beweisen, dass ein Fehler auch tatsächlich den Schaden verursacht hat. Doch bei besonders schwerwiegenden Versäumnissen (z. B. wenn Hinweise wie „sofort ins Krankenhaus“ ignoriert oder nicht weitergegeben werden), kehrt sich diese Beweislast um:
Dann muss die zuständige Körperschaft – also z. B. der Landkreis oder die Stadt – beweisen, dass der Schaden auch ohne diesen Fehler eingetreten wäre.
Das ist ein Paradigmenwechsel im Haftungsrecht der Notfallversorgung – und es bedeutet:
Fehlentscheidungen in Leitstellen sind kein „Kavaliersdelikt“, sondern können haftungsrelevant werden – mit harten Konsequenzen.
Und jetzt? Warum wir endlich bundeseinheitliche Standards und vernetzte Systeme brauchen
Der Fall zeigt auf schmerzhafte Weise, wie komplex – und anfällig – unsere heutige Notrufstruktur ist:
- Unterschiedliche Zuständigkeiten je nach Bundesland
- Individuelle Vereinbarungen zwischen Landkreisen
- Unterschiedliche technische Systeme und Protokolle
- Mangelnde automatische Informationsweitergabe bei Weiterleitungen
Die Folge: Zeitverlust, Informationsverlust, Lebensgefahr.
Und das ist kein Einzelfall. Täglich arbeiten Disponentinnen und Disponenten unter enormem Druck – und oft mit begrenzter technischer Unterstützung. Unterschiedliche Softwarelösungen, fehlende einheitliche Standards und unklare rechtliche Zuständigkeiten erschweren schnelle und medizinisch korrekte Entscheidungen.
Unsere Forderung: Schluss mit föderalem Flickenteppich – her mit dem „Digitalpakt Leitstellen“
Was wir jetzt brauchen, ist mehr als ein Urteil. Wir brauchen eine Reform der Leitstellenstruktur in Deutschland:
- Einheitliche technische Schnittstellen zwischen allen Leitstellen
- Bundesweit verbindlicher Indikationskatalog für Notarzteinsätze
- Automatisierte Übertragung relevanter Informationen bei Weiterleitungen
- Dokumentationspflichten und KI-gestützte Entscheidungsunterstützung
- Verbindliche Schulungsstandards und Qualitätssicherung
Was heute an Ländergrenzen endet, muss in Zukunft vernetzt funktionieren – nicht nur für den Datenaustausch, sondern auch für die Mobilität der Rettungsmittel selbst. Denn medizinische Notfälle halten sich nicht an Zuständigkeitsgrenzen.
Fazit: Verantwortung braucht Standards – und der Rettungsdienst verdient digitale Rückendeckung
Das Urteil des Bundesgerichtshofs ist ein Fingerzeig: Rettung beginnt nicht erst am Einsatzort – sondern beim ersten Anruf.
Wenn dieser Anruf nicht richtig eingeordnet, weitergeleitet oder gewichtet wird, kann das gravierende Folgen haben.
Wir sollten diese Entscheidung als Chance begreifen:
➡️ für ein modernes, vernetztes, rechtssicheres Rettungssystem
➡️ für mehr Sicherheit und Verlässlichkeit im Notfall
➡️ und für einheitliche Leitlinien, bei denen medizinische Qualität vor Zuständigkeit steht
Denn am Ende zählt nicht, welche Leitstelle zuständig ist – sondern dass Hilfe kommt. Schnell. Richtig. Und lückenlos.
👉 Was denkst du über das Urteil? Muss sich in der Leitstellenstruktur etwas ändern?
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